Große Halle

Enrico war nicht nur seltsam, er war ihm auf irgendeine ungewollte Art und Weise fast unwahrscheinlich. Er hatte so wenig mit dem anderen Jungen gemein, dass sein Gehirn ihm erklärte, der Italiener müsse an einer psychischen Krankheit leiden, um einen derart überzeugenden Enthusiasmus an den Tag zu legen. Möglichkeiten gab es viele. Die Manie zum Beispiel, das krasse Gegenteil der energielosen Depression, dem zerlaufenen Zustand in dem er sich befand. Die Welt einer manischen Person war fast übermäßig scharf, überzeichnet, ließ ihn keine Sekunde zur Ruhe kommen. Oder, weniger dramatisch aber von außen gelegentlich mit ähnlichen Symptomen ADHS, das Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizit-Syndrom. Im Grunde die Störung, die Vyvyan für am wahrscheinlichsten hielt, schlicht und ergreifend weil sie am häufigsten auftrat. Zu guter letzt blieb dann aber doch wieder die Depression. Es gab eine spezielle Untergruppe an Betroffen, die weiterhin funktionierte und gelegentlich sogar übermäßig produktiv war, aus Angst vor eben diesem Gefühl der Wertlosigkeit, welches ihn ebenfalls verfolgte und tag täglich einholte. Im Grunde fiel es ihm eigentlich nur einfach leichter, Enricos Nähe zu ertragen, wenn er sich darauf berief, dass dieser eventuell ebenfalls Probleme hatte. Es gab keinen Beweis dafür, seine Theorien waren vollkommen an den Haaren herbeigezogen und es war ihm unangenehm, von der psychischen Krankheit eines anderen Hausmitglieds auszugehen, nur um ihm eher zu vertrauen aber irgendwo wusste er einfach, dass der aufgedrehte Sechzehnjährige kein schlechter Mensch war.
Andererseits fand sein gesamtes Leben auf einer Bühne statt, und er trug dabei so viele Masken, dass selbst der Muggelstämmige nicht mehr ganz durchblickte, was jetzt real war und was Fassade. Enrico schien einfach zu sehr mit seinen eigenen Rollen verschmolzen, als das man da noch einen Unterschied machen könnte, und gleichzeitig war er doch wie ein Schauspieler. Aus diesem Grunde würde aus ihrer Bekanntschaft nicht mehr werden als das, was sie nun einmal war: Eine Bekanntschaft. Deshalb und weil… „Servus Vyvylein!“, die Stimme war einfach zu laut, zu aufgedreht in jedem möglichen Sinne. Vyvyan wollte den anderen Hufflepuff nicht nicht mögen, aber er konnte mit dessen Art einfach nicht umgehen. Er hatte seine innere Mauer zu sorgfältig aufgebaut, um gleich den ersten Possenreißer hineinzulassen. Was in keinster Weise abwertend gemeint war, denn der Ältere mochte den dunkelhaarigen Jungen der so ausdauernd dabei blieb die gesamte Schülerschaft bei Laune und die Lehrer auf Trab zu halten, und tatsächlich musste selbst er über einige seiner Aktionen grinsen. Die Tanzeinlage heute war allerdings keine dieser seltenen Gelegenheiten gewesen. Nicht nur, das heute ein besonders schlechter Tag dafür war, er fand auch einfach nichts an Stücken wie Sweet Transvestite. Aber immerhin hatten Janet und Enrico Spaß daran gehabt, ebenso wie der Rest der großen Halle und darum ging es doch immerhin. Bei Fayes gehässigem Kommentar über den Tanzstil der beiden zuckte er anstatt derjenigen, die sie damit angegriffen hatte zusammen. Sein Gegenüber dagegen schien sich nicht im Geringsten darum zu kümmern, was man über ihn sagte. Das war schließlich der Punkt, an dem Vyvyans ‚Bewunderung’ – wenn man es denn so nennen konnte – für den Jüngeren einsetzte. Ganz gleich ob dieser jetzt psychisch gestört oder einfach ein hoffnungsloser Fall von naivem Optimismus war, er ließ sich nicht unterkriegen. Vielleicht musste er das tun, um nicht zu zerbrechen, vielleicht bemerkte er es aber tatsächlich nicht, oder er interessierte sich zumindest so wenig dafür, dass es ihm nichts ausmachte. Der Langhaarige hätte das ebenfalls gern gekonnt. Aber so funktionierte das nun einmal nicht, und er würde nicht mit Enrico oder sonst irgendjemandem jemals darüber sprechen. Er war immerhin schon selbst seltsam genug, und sollte sich glücklich schätzen dass der Italiener überhaupt mit ihm sprach. Denn selbst wenn man sich über ihn lustig machte, hatte er trotzdem den grossteil seiner Schüler, nicht zuletzt wegen seiner gewinnenden Art, auf seiner Seite.
Erst jetzt, nach einigen in Schweigen verstrichenen Sekunden, bemerkte der Siebzehnjährige dass er bisher noch nichts auf die Begrüßung erwidert hatte. „… morgen.“, nuschelte er deshalb zurück und hörte endlich damit auf, durch den anderen hindurchzustarren. Inzwischen hatte er sein Frühstück so gut wie beendet, aber auch sonst wäre er in den nächsten Augenblicken verschwunden. Das hatte nichts speziell mit Enrico zu tun, zumindest redete er sich das ein, aber er konnte nicht länger in diesem Aufzug hier herumsitzen und gute Miene zum bösen Spiel machen. Ihm war auch klar, dass er, kaum dass er wieder in seinem Zimmer wäre ins Bett fallen und bis zum Abend durchschlafen würde. Und wenn er nicht schliefe, dann würde er bewegungslos daliegen und so tun als ob, nur um für ein paar Stunden abschalten zu können. Allein schon dieses nichts-tun konnte für einen Depressiven zur äußersten Anstrengung werden, zumal es die übrigen Symptome der Krankheit, das Gefühl der Nutzlosigkeit, der Leere und schlicht der Müdigkeit noch verstärkte.
Bemerkenswert an dem Dunkelhaarigen war außerdem, dass er plötzlich wieder so normal sein konnte. Hatte er eben noch über den Tisch getanzt und Vyvyan war in der großen Masse der gesichtslosen Zuschauer verschwunden so hob er sich jetzt wieder mit seinem ganzen nach Traurigkeit stinkenden Äußeren wieder mehr ab denn je. Ja, wie war das Frühstück so? Was sollte er dazu sagen? Dass Jason nicht beim Winterball dabei sein würde, weil er gottverdammt noch einmal tot war? Irgendwie musste er das sagen, doch bisher starrte er nur stur auf seinen Teller und die noch immer unangerührte Crossaint-Hälfte, aber sein Zaubertrick mit dem Verschwinden funktionierte noch immer nicht sonderlich gut. Okay, um ehrlich zu sein überhaupt nicht. „Jason McMillan ist tot.“, antwortete er schließlich leise. Den Ball konnte er jetzt einfach nicht erwähnen. Das war einfach alles zu absurd. Ein Mitschüler war tot, und niemand wusste was als nächstes käme. Was, wenn sie ernstlich ich Gefahr waren? Persönlich zweifelte er immerhin wenig daran, dass der Gryffindor ermordet worden war, auch wenn seine Leiche noch nicht gefunden worden war. Er wollte Enrico einfach keine Hoffnung machen, alles könne wieder gut werden und Jason in der nächsten Sekunde mit einem Grinsen und einem lauten ‚It’s a Prank!’ hinter irgendeiner Ecke hervorspringen. “Und jetzt… entschuldige mich bitte aber… ich muss weg.“, damit stand er von der Bank auf und nahm den kürzesten Weg aus der großen Halle, ohne noch auf eine Antwort zu warten. Es hatte fast den Anschein als floh er, und im Grunde war dies nicht einmal so falsch. Vyvyan mied längere Gespräche so gut er nur konnte.